Vier Wochen lang war die 21-jährige Konditorin Dorothea in Ehrenfriedersdorf bei unserem Mitglied Bäckerei Nönnig zu Gast – nicht als Touristin, sondern als Wandergesellin. Mit ihrer traditionellen Kluft bestehend aus der weißen Staude (kragenloses Hemd), einer schwarz-weiß karierten Weste mit acht Perlmuttknöpfen, einem karierten Jackett mit sechs Knöpfen und dem breitkrempigen schwarzen Hut, fällt sie schon von weitem auf. Dazu trägt sie die markante Anstecknadel mit zwei goldenen Löwen.
Doch so auffällig ihre Kleidung ist, noch mehr beeindruckt ihre Begeisterung für die Region und die Menschen:
„Die Menschen hier sind sehr aufgeschlossen und so zuvorkommend. Sie würden ihr letztes Hemd geben, um einem die Region und die Mentalität zu zeigen."
Dorothea
Dorothea ist seit ihrer Gesellenprüfung auf Wanderschaft – einer uralten Tradition des Handwerks, die auch heute noch gelebt wird.
Was ist die Walz im Handwerk?
Die Walz, auch Gesellenwanderschaft genannt, ist eine jahrhundertealte Tradition aus dem Mittelalter. Frisch ausgelernte Handwerksgesellinnen und -gesellen verlassen ihre Heimat, um regionale Techniken, neue Arbeitsweisen und fremde Kulturen kennenzulernen – in Deutschland und oft auch weltweit.
Ziele der Walz
- Fachliche Weiterbildung: Arbeit in verschiedenen Betrieben, Erlernen neuer Techniken
- Kultureller Austausch: Kennenlernen regionaler und internationaler Traditionen
- Persönliche Entwicklung: Selbstständigkeit, Anpassungsfähigkeit und Netzwerken im Handwerk
Regeln und Voraussetzungen für die Walz
Um auf die Walz gehen zu können, müssen Handwerksgesellinnen und -gesellen einige Kriterien erfüllen:
- Alter unter 30 Jahren
- Gesellenbrief im erlernten Handwerk
- Ledig und schuldenfrei
- Kein Aufenthalt im Umkreis von 50 km zum Heimatort während der Walz
Die Dauer der Walz beträgt traditionell drei Jahre und einen Tag. Das Gepäck ist minimal: Kleidung, Arbeitszeug und persönliche Dinge werden im Charlottenburger (Bündeltuch) verstaut. Ein Auto oder Handy sind tabu – Fortbewegung erfolgt zu Fuß, per Anhalter oder mithilfe anderer Menschen.
Leben und Arbeiten unterwegs
Auf der Walz arbeiten Gesellinnen und Gesellen in Handwerksbetrieben und erhalten den üblichen Lohn. Oft stellen die Betriebe auch eine Unterkunft und Verpflegung bereit. Viel wichtiger als materielle Dinge sind jedoch die Werte der Wandergesell:innen:
- Ehrbarkeit: Sie verhalten sich so, dass der nächste Geselle genauso willkommen ist.
- Verlässlichkeit: Absprachen und Termine werden eingehalten.
- Tradition & Respekt: So nimmt Dorothea z. B. ihren Hut ab, sobald sie die Backstube betritt – ein Zeichen des Respekts gegenüber den Lebensmitteln.
„Bei uns kann man sich auf das Wort verlassen. Dabei ist auch wichtig, wenn man Termine mit anderen Gesellen ausmacht, dass man sich an dem abgesprochenen Tag auch trifft.“
Dorothea
Ein besonderes Ritual ist die Nagelung: Wandergesell:innen erhalten nach einigen Wochen einen Ohrring, durch das Ohrläppchen genagelt – als sichtbares Zeichen ihres Versprechens, die Walz mindestens drei Jahre und einen Tag durchzuhalten. Dorotheas Mitreisende Veronika war zum Zeitpunkt in Ehrenfriedersdorf noch eine „Jungreisende“ ohne Nagelung.
Dorothea und die Gastfreundschaft im Erzgebirge
Besonders beeindruckt hat Dorothea die Offenheit und Hilfsbereitschaft der Erzgebirger: „Die Menschen hier sind sehr aufgeschlossen und so zuvorkommend. Sie würden ihr letztes Hemd geben, um einem die Region und die Mentalität zu zeigen.“
Für Dorothea war es nicht der erste Aufenthalt in Sachsen. Schon zuvor hatte sie in der Weihnachtszeit in Pulsnitz Erfahrungen gesammelt. Diesmal jedoch erlebte sie das Erzgebirge intensiver – sowohl in der Backstube als auch in der Begegnung mit den Menschen.
Dorotheas Zeit bei der Bäckerei Nönnig
Bei der Bäckerei Nönnig konnte Dorothea tief in das Backhandwerk des Erzgebirges eintauchen. Für Inhaber Tobias Nönnig war es eine neue und bereichernde Erfahrung, gleich drei Wandergesell:innen im Betrieb zu haben – neben Dorothea auch Jakob (Schieferdecker) und Veronika (Konditorin).
„Es ist schön zu sehen, wie vernetzt die Reisenden untereinander sind – und das ohne Handy."
Tobias Nönnig
Bei der Bäckerei Nönnig hat sie nicht nur das Backhandwerk gepflegt, sondern auch wertvolle Einblicke in die regionale Kultur erhalten. Ein Stück Handwerkstradition, die verbindet – damals wie heute.
© Fotos: ROBBY SCHUBERT, Bäckerei Nönnig



